„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen – woher kommt mir Hilfe?“ Requiem für den Zugspitz-Gletscher

„Um Gottes Willen, wie sieht es denn hier aus?“ So fragen Menschen entsetzt, die nach längerer Zeit wieder einmal auf Deutschlands höchsten Punkt, die Zugspitze, gekommen sind. „Vor zehn Jahren war doch noch alles weiß hier. Damals sind wir noch durch den Schnee gestapft und die Kinder konnten rodeln, mitten im Sommer! Jetzt ist das alles hier ja nur noch eine Geröllwüste!“ Oft höre ich solche Äußerungen, wenn ich als Gästeseelsorgerin auf der Zugspitze unterwegs bin. Wöchentlich halten wir in den Sommermonaten Andachten in Deutschlands höchstgelegener Kapelle „Mariä Heimsuchung“ auf 2.600 m Höhe. Näher am Himmel kann man kaum beten. Und näher am Erschrecken der Menschen über den rasant fortschreitenden Klimawandel ist man wohl nirgendwo anders. Die Leute trauern über den sterbenden Gletscher. Der ehemalige Eisriese, vor zehntausend Jahren entstanden und bis vor wenigen Jahren noch „Ewiges Eis“ genannt, schmilzt dramatisch und deutlich sichtbar dahin. Allein in den letzten zehn Jahren hat er die Hälfte seines Volumens verloren. 2022 wurde der Südliche Schneeferner von der Bayrischen Akademie der Wissenschaften zum bloßen Toteis erklärt; auch der Nördliche Schneeferner und der Höllentalferner an der Zugspitze liegen schwitzend im Sterben. Längst ist es absehbar, dass es in Deutschland in wenigen Jahren keine Gletscher mehr geben wird. Die Veränderungen durch den Klimawandel liegen in unserer sensiblen Alpenregion besonders deutlich auf der Hand: Der Rückgang des Permafrosts, Trockenheit, geschädigte Bäume, veränderte Klimazonen und schmelzende Gletscher verändern das Leben im Gebirge. Doch nicht nur für Fotografinnen, Hüttenwirte, Bergsteigerinnen und Kletterer ist dies Anlass zur Sorge, auch unten im Tal fragen sich viele: Wie soll es weitergehen? Welche Auswirkungen hat der Klimawandel auf unseren Ort, auf die Wasserversorgung, auf den Tourismus, auf unsere ganze Welt? Rosig sind die Prognosen nicht. Die Situation betrifft und belastet die Menschen. Sie liegt vielen schwer auf dem Herzen. Zunehmend wird die Sorge um die Zukunft unserer Welt auch ein seelsorgerliches Problem. Mancher fragt sich: Woher kommt mir Hilfe? (Psalm 121,1) Wie soll es weitergehen? Welche Welt hinterlassen wir unseren Kindern und Kindeskindern?

Als Pfarrerin habe ich einerseits die Aufgabe, besorgte Menschen einfühlsam zu begleiten und ihnen nach Möglichkeit Wege in die Zukunft zu eröffnen. Andererseits möchte ich die anderen, die das Problem nach wie vor ignorieren und verdrängen, aufrütteln. Auch bei ihnen möchte ich Bewusstsein für die Kostbarkeit der Schöpfung wecken und die Einsicht, dass der Erhalt unseres unserer vielfältigen Welt jede Anstrengung wert ist. Ureigenste Aufgabe der Kirche ist es seit jeher, Sterbenden und ihren Angehörigen beizustehen. Einen Abschied seelsorgerlich und liturgisch zu begleiten, wird vielfach als hilfreich, tröstend und stärkend erlebt. Diese zwischenmenschliche Erfahrung hat mich auf die Idee gebracht, sie auch für unseren Umgang mit der Natur fruchtbar zu machen:

Am 25. Juli 2023 haben wir deshalb auf dem Zugspitzplatt ein „Requiem für den Gletscher“ gefeiert. Vorbereitet wurde die Aktion von unserer Umweltgruppe „Grüner Gockel“ der evangelischen Kirchengemeinde Garmisch-Partenkirchen zusammen mit dem für Tourismuspastoral im Werdenfelser Land zuständigen Pastoralreferenten Florian Hammerl. In ökumenischer Gemeinschaft sind wir zusammen mit Wissenschaftler*innen der Umweltforschungsstation Schneefernerhaus (Laura Schmidt, Dr. Till Rehm) sowie Vertretern von Kirche (Dekan Jörg Hammerbacher) und Deutschem Alpenverein (Wolfgang Neuner, Vorstandsmitglied DAV Sektion München) nach einer Andacht in der Kapelle gemeinsam zum Fuße des Gletschers gezogen. Dort haben wir für den Sterbenden, für die gesamte Natur und für die Zukunft unseres Lebensraums „Erde“ gebetet sowie Mensch und Natur gesegnet. Informationen über die Faktenlage sowie unsere Trauer über den sterbenden Gletscher hatten dabei ebenso ihren Platz wie die Hoffnung auf Einsicht, Umkehr und die Hilfe Gottes. So heißt es im Psalm: „Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat!“ (Psalm 121,2) Vielleicht geschieht die göttliche Hilfe ja durch ein neues Aufwachen und Zusammenstehen der Menschheit? Für den Gletscher haben wir Sterbebilder verteilt, darauf war zu lesen: „In tiefer Trauer geben wir bekannt, dass der Zugspitzgletscher von uns geht. Mit schwerem Herzen nehmen wir Abschied von einem majestätischen Naturwunder, das über Jahrtausende unsere Landschaft geprägt hat. Möge uns sein Vermächtnis als Mahnung dienen, unsere Umwelt zu schützen und zu bewahren. In großer Trauer um den Zugspitzgletscher * 10.000 v. Chr., † in den 2020er Jahren an der Erderwärmung“.

Kirchenmusikdirektor Wilko Ossoba-Lochner hatte für diesen Anlass eigens ein Werk komponiert: „Elegie auf das Ende des Ewigen Eises“ und dafür Texte aus der Ilias, dem Alten Testament, Andreas Gryphius und Wilhelm Vischer vertont. Mit drei Sängerinnen, Blasinstrumenten und der argentinischen Trommel "Bombo legüero" wurde das Werk uraufgeführt – aufgrund der Wetterverhältnisse freilich leider nicht direkt am Gletscher, sondern unterm Dach des Restaurants „Sonnalpin“. Dorthin lud die Zugspitzbahn alle Mitwirkenden im Anschluss unsere Veranstaltung noch zu einer Brotzeit ein. Ein Leichenschmaus gehört schließlich zu einer Trauerfeier.

Gefreut haben wir uns, dass unser Requiem für den Zugspitzgletscher auf großes Interesse der Medien stieß. Es waren zahlreiche Journalist*innen und Filmteams vor Ort. Viele große Tageszeitungen berichteten und einige Hörfunk- und Fernsehbeiträge wurden deutschlandweit gesendet.

Durch unsere Aktion wollten wir Bewusstsein schaffen und zeigen, wie sehr uns das Thema „Klimawandel“ bewegt – als berg- und naturverbundene Menschen, als Kirche, als Bewohner*innen der Erde. Ein Sterbender hinterlässt oftmals ein Vermächtnis. Wir fragten: Was ist das Vermächtnis des Zugspitz-Gletschers an uns? Folgende Antwort haben wir vernommen: Wach, sensibel und achtsam mit der Welt und miteinander umgehen, Gräben überwinden, das Gespräch auch mit Andersdenkenden suchen. So wie am Sterbebett eine Familie oftmals neu zusammenrückt, geht es auch für uns darum, unsere Verbundenheit neu wahrzunehmen. Der Mensch ist nicht Gegenüber und „Herrscher“ über die Natur. Er ist Teil von ihr. Nur gemeinsam werden wir die enormen Herausforderungen der Zukunft bewältigen.

Pfarrerin Uli Wilhelm
Garmisch-Partenkirchen